Samstag, 23. April 2005

Kannibalenlogik

Schon der erste Prozess gegen den Kannibalen von Rotenburg war Anlass für allerschrägste Überlegungen und kreative Einfälle aller Art. Dieser Meiwes hatte argumentiert, sein Opfer sei einverstanden gewesen mit der Schlachtung. Ja, es habe geradezu darum gebeten. Und auch der Anwalt hatte betont, sein Mandant habe aus Mitleid getötet. Darum ging der gesamte Urteilstenor in Richtung „Tötung auf Verlangen“.
Wenn man das so schräg weiter denkt, dann wäre die Verweigerung der Schlachtung ja eigentlich eine unterlassene Hilfeleistung.
Wenn man das unangefochten von Skrupeln und Einwänden noch weiter denkt, dann tut sich hier ein prozesstaktisches Feld allerkreativster Art auf.
So könnte ein Mörder sagen, sein Opfer habe ihn so angesehen, dass er gar nicht anders konnte, als ihm das fällige Hinscheiden zu ermöglichen. Und wenn man ihm nachweist, dass das Opfer kregel und lebensfroh war, dann kann er behaupten, seine Antennen hätten ihm was anderes signalisiert und dennoch die ganze Untat als ein einziges Missverständnis darstellen. Möglichkeiten über Möglichkeiten.
Auf einer Internetseite zum medialen Echo des Prozesses wird die legendäre Schlagzeile von „BILD“ zitiert: Kannibale frass Berliner auf. Superklasse war dann noch: Kannibale ist wieder verliebt. Ein Kommentator fragte ironisch: Diesmal in ein Wiener Schnitzel? Herrlich.

Mittwoch, 16. März 2005

Ein Euro-Jobs

Was habe ich heute gemacht?
Ich war zusammen mit einer Dame, die mich in die neuen Aufgaben einführen soll, für eine ältere Dame einkaufen. Ich habe etwas erfahren über die schlimme Drogenkarriere eines etwas egozentrischen, aber nicht unsympathischen jungen Mannes, der lernen soll, etwas Nützliches zu tun. Dann haben wir diesen jungen Mann bei einer weiteren alten Dame abgeliefert, damit er mit ihr – die einen bypass hat, aber sonst ganz kregel ist – ein Stück an die frische Luft geht. Dann habe ich – das erste Mal seit über vierzig Jahren - zusammen mit drei sechsjährigen Jungen, zwei etwas älteren Mädchen, einer alten Dame von 70 und noch ein paar jungen Frauen zusammen, Luftmaschen gehäkelt. Eine herrliche Veranstaltung.

Ich bin in einem sozialen Stadtteilprojekt gelandet. Es gefällt mir ganz gut, weil es mitten im Leben ist und ich im Moment - obwohl das ein schlecht bezahlter Minijob ist – ganz dankbar bin, unter Menschen zu sein. Die Berliner Projekteszene ist ein Dorf und ich habe dort eine junge Frau getroffen, die mich von meinem früheren Projekt kannte. Diese soziokulturellen Zentren sind alle ein bisschen wie Pfarrhäuser. Dauernd klingelt es, alle kennen sich und immer mal wieder wird Kaffee oder Tee gekocht.
Interessante Leute kennen gelernt und außerdem fängt ja auch der Frühling an. Das ist doch auch was.

Und: als ich gestern von der Einführungsveranstaltung kam , traf ich die erste Frau meines Mannes und habe sie später besucht. Langer Tratsch. Ihre Tochter hat ein Weile bei dieser Einrichtungssendung „Einsatz in vier Wänden“ gearbeitet. Es sei alles sowieso Betrug, die arbeiten da nicht an einem Tag, sondern an mindestens dreien und diese Tine Wittler sei auch keine Expertin....na herrlich

Freitag, 4. März 2005

Aussichten

Eine blasse Wintersonne kann ich von meinem Fenster aus beobachten. Gleichzeitig fesseln mich hochinteressante Kranarbeiten an einem mindestens zwei Kilometer entfernten Speicherturm.
Wenn draussen Schnee liegt, den heben sich die kahlen Bäume so schön schwarz von dem dahinterliegenden beschneiten Feld ab.

DeutschlandRadio Berlin meldet die Temperaturen: Von minus 14 Grad in Bayern bis zu plus vier am Niederrhein. Sehen die Deutschland noch in den Grenzen von vor 1990? Sehr seltsam.

Montag, 15. November 2004

Umgekehrter Mieterstreit

So kennt die Geschichte jeder: Ein böser, böser Vermieter kujoniert seine Mieter. Höhnisch lachend steigert er die Mieten in astronomische Höhen oder er versucht, die Mieter durch Luxussanierung zu vertreiben. Wenn es ganz schlimm kommt, lässt er sie von angeworbenen Strolchen schikanieren, bis sie das Feld räumen und das Haus endlich kostensteigernd "leer gezogen" ist.
Aber wir sind in der seltenen Lage, eine Geschichte erlebt zu haben, die genau andersrum geht:

Nicht weit von hier wohnten wirAls wir vor einem Jahr aus dem Gründerzeithaus auszogen, in dem wir über 13 Jahre gewohnt hatten, da hatten wir schon seit 10 Monaten keine Miete mehr gezahlt. Irgendwann war auf unser aller Kontoauszügen der Betrag mit dem Vermerk "Konto erloschen" wieder aufgetaucht.
Wo war er abgeblieben, der freundliche Vermieter mit dem Vollbart? Wo versteckte er sich, der sanftäugige Mensch, der uns allen, nachdem man ihm das Grundstück zurückgegeben hatte, das seine Eltern schon erworben hatten, einen lieben Brief geschrieben hatte, in dem er eine gemächliche und für die Mieter zumutbare Sanierung angekündigt hatte.

Schon der erste Sanierungsschritt scheiterte. Es sollte der Einbau einer Zentralheizung sein. Von der Ankündigung bis zu dem Moment, da die Handwerker die ersten Rohre ins Haus trugen verging ein Jahr, weil es mit der Finanzierung nicht so wie geplant klappen wollte. Das erfuhren wir, weil der Vermieter meinen PC nutzte, um einen Kostenvoranschlag abzurufen.

Von da an hörten weder die Handwerker noch wir etwas von ihm. Auch unser Nachbar, der stolz erzählt hatte, er kenne sogar noch die Eltern des Hausbesitzers aus der Kinderzeit, wußte nicht, wie man seiner habhaft werden konnte. Wir alle wussten zwar seine Adresse und auch, dass er bei einer Finanzbehörde arbeitet. Aber immer wieder kam die Post zurück.

Also trugen die Handwerker die Rohre wieder aus dem Haus und dann geschah eine ganze Weile nichts.
Und - nach wieder einer Weile - kam unsere eingezahlte Miete mit dem oben erwähnten Vermerk zurück . Die erste Mieterversammlung wurde fällig. Es gab natürlich Mieter, die sofort mit glänzenden Augen fragten, wie viele Jahre eigentlich vergehen müssen, bis so eine Forderung verjährt, aber wir Besonneneren sahen die Probleme, die auf uns zukommen würden. Und sie kamen.Die Wasserwerke drohten mit Absperrung, obwohl die Rechtsgrundlage dafür mehr als brüchig war.
Auch die Stromwerke wollten nicht länger warten, der Hauswartungsdienst zog sich zurück und wir mußten zur Selbsthilfe greifen. Wir hatten die Nase voll und zogen aus. Dem später eingesetzten Zwangsverwalter zahlten wir mit Abstrichen die aufgelaufene Miete und das war's.

In diesen Tagen rief uns ein Nachbar an. Es sei wieder soweit, sie hätten schon wieder seit Monaten keine Miete gezahlt, und wieder drohe unter anderem die Wasserabsperrung.
Der Nachbar erzählte von einer Reise, die er - ausgestattet mit dem Votum der Mietervollversammlung aber auf eigene Kosten - nach H. durchgeführt hat. Stundenlang habe er vor dem Haus des Vermieters gestanden, um zu erfahren, wie es um ihn steht und wie die Miete gezahlt werden soll. Aber er habe kein Glück gehabt. Also habe er noch einen Tag drangehängt, obwohl dadurch auch noch Hotelkosten angefallen wären und sei zu der Behörde gegangen, bei der der Vermieter arbeitet, was er von einem der Handwerker wusste. Er habe ihn auf dem Behördenflur "gestellt und überredet, ihn zu einem Cafe in der Nähe zu begleiten, um die Sache zu besprechen. Nein, er wolle sich wieder um das Haus kümmern und nicht verkaufen, habe der Vermieter beteuert. Er werde bald einen Brief an alle schreiben, es lägen schreckliche Zeiten hinter ihm - ein "burn out" Syndrom habe ihn wirklich schwer mitgenommen, aber er sei jetzt über den Berg. Nach einer Stunde seien sie auseinander gegangen, der gestresste Vermieter und der zahlungswillige Mieter.
Seitdem ist das geschehen, was zu erwarten war, nämlich gar nichts.

Ein Vermieter, der sich vor seinen Mietern versteckt, der unter der Last seines Besitzes so gebeugt ist, dass er immer mal wieder verschwinden muss. Und Mieter, die Suchaktionen nach ihm veranstalten, damit sie endlich ihr Geld loswerden. Ist das nicht eine herrliche Umkehrung?

Dienstag, 9. November 2004

9. November

Am neunten November 1989 abends sind wir ins Bett gegangen wie immer, weil wir uns – trotz der merkwürdigen Ankündigung von Schabowski – überhaupt nicht vorstellen konnten, dass das als sofortige Grenzöffnung zu verstehen ist. Wir dachten, dass man unbürokratisch einen Antrag abgeben und dann reisen kann. Deshalb sind wir zwar ziemlich aufgeregt, aber nicht völlig „außer uns“ ins Bett gegangen. Direkt am Checkpoint Charly lag mein Arbeitsplatz
Es hatte schon einige merkwürdige Entwürfe über ein neues Reisegesetz gegeben, alle viel zu restriktiv für die dramatische Entwicklung, deshalb erwarteten wir ständig Nachbesserungen. Erst am Morgen hörten wir, was in der Nacht passiert war.
Ich hatte am nächsten Tag Spätdienst und ging vor der Arbeit zur Bornholmer Brücke.
Dort war eine Riesenschlange, die Grenzer standen irgendwie ratlos rum und als ich einen ansprach, um nach der Situation zu fragen, zuckte er mit der Schulter. Halb missmutig und halb ratlos.
Dann bin ich zum Spätdienst gegangen, der – angesichts der Ereignisse - unglaublich stressig war. Gegen 23 Uhr bin ich mit dem Kraftfahrer noch zur Bernauer Strasse gefahren, wo sie schon ganze Mauersegmente rausbrachen, damit die Leute durchkommen. Und am nächsten Tage ging ich da hin, traf ein amerikanisches Fernsehteam und habe mit denen ein paar Tage ziemlich geschuftet und mein erstes Westgeld verdient. Das Brandenburger Tor ging viel später erst auf. Bis dahin und auch danach hatte ich die verrückteste und arbeitsintensivste Zeit in meinem Leben. Als am 1. Juli 1990 die Währungsunion kam, lag ich im Krankenhaus.

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Zuletzt aktualisiert: 12. Apr, 12:18

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