Montag, 18. Januar 2010

THERAPEUTISCHE BÜCHER

(Wish I could find a good book to live in)

Im Dezember1988 notiert der Schriftsteller und Dichter Peter Rühmkorf (1929-2008)
in sein Tagebuch TABU I: „Das Gefühl, dass etwas zu Ende geht, Zur Hälfte bereits abgestorbenes Zeug, das man mit sich herumschleppt. Erledigte Stoffe. Hadesgepäck. Und kein tröstliches Buch, in dem man rückstandlos verschwinden kann.“.

Wer kennt solche Gefühle nicht, wer hebt nicht manchmal irritiert die Augen von einem Buch, weil es ihn soeben entlassen hat aus seiner Welt in die eigene wie sie ist.

Oder, wer bekommt nicht Sehnsucht nach diesem Buch - und möchte wieder hineinflüchten, weil es so gut getan hat, drin zu verschwinden und zu lesen. Es hat weniger mit dem Bedürfnis nach Weltflucht, sondern – bei mir ist es so – mit dem Trost zu tun, den man daraus schöpft, dass es den Romanhelden ähnlich geht, wie einem selbst. Viele Leser wollen von Büchern nichts als entführt werden, ich nicht. Ich will erinnert werden, wie das wirkliche Leben ist und manchmal daran, dass es nicht so schlimm ist, nicht die Katastrophe, die ich befürchte.
Bücher mit einer therapeutische Wirkung nenne ich solche Lektüre. Manchmal nur für eine bestimmte Zeit, manchmal auch für immer.

Solche Sachen werde ich in einer kleinen Reihe vorstellen.

TAGEBUCH DER ARMUT

Warum lese ich immer wieder ein Buch, in dem eine Frau aus den Favelas von Sao Paulo schildert, wie sie täglich gegen den Hunger kämpft, durch die Straßen von Sao Paulo mit ihrem Müllsack eilt und Abfall sammelt?
Das Buch, in dem davon die Rede ist, heißt „Tagebuch der Armut“ und stammt von der schwarzen Brasilianerin Carolina Maria de Jesus.
Erschienen ist es schon zu DDR-Zeiten in der Reihe Documente des Reclam Verlags. Es ist ein authentischer Bericht, denn es hat sie gegeben, diese Carolina Maria de Jesus. Sie lebte mit ihren zwei Kindern, Vera und Joao, in einer neun Quadratmeter großen Bretterbude.

Ende der fünfziger Jahre begann sie jenes Tagebuch, in dem sie berichtet, wie sie leere Flaschen sammelt und verkauft, wie viel sie dabei verdienen konnte für den Tag und wie sie versucht, ein bisschen Fleisch am Kühlhaus zu ergattern, bevor es mit Lauge übergossen wird, wie sie zur Wasserstelle geht und sich mit den Frauen unterhält und streitet, wie sie ihre Kinder vor den Schlägen ungeduldiger Nachbarn schützt, wie sie ihrer Tochter neue Schuhe schenken kann, weil sie auf einen mildtätigen und an ihr sexuell interessierten Menschen trifft und wie sie jeden Abend hofft, der nächste Tag würde besser. Und wie sie erlebt, dass der Hunger alles in gelbe Farbe taucht. Der Hunger, der überall ist und der sie jeden Tag aus den Gesichtern ihrer Kinder anblickt.

Nein, ich lese das nicht, weil ich mich dann befriedigt zurücklehnen und mir sagen kann, wir sollten doch zufrieden sein, weil es einem ja doch gut geht, wie es neoliberale Moralisten empfehlen. Ich lese es, weil es eine Sprache ist, die einfach und doch tief zu Herzen gehend ein Leben schildert, das menschenunwürdig ist und in dem sich trotzdem seine Würde zu bewahren eine tägliche, übermenschliche Anstrengung bedeutet.

Ich verfolge dieses Leben auch deshalb weil ich Tagebücher liebe, die den Alltag beschreiben. Und der Alltag hat viele Gesichter überall auf der Welt.
Deshalb ist dieser alte Reclam Band schon ein bisschen zerlesen. Ich schlage ihn auf, so als besuchte ich diese Carolina mal wieder und fragte, wie es ihr geht.

Es ist kaum noch möglich, in Worten, die nicht verschlissen und abgegriffen sind, das Elend zu benennen . Alles ist schon gesagt und darum lese ich – statt nach neuen unverbrauchten Worten zu fahnden - lieber nach, was schon niedergeschrieben ist, unverstellt und ohne Pathos. Aus Anteilnahme. Die Empörung stellt sich ohnehin ein, wenn man sich vor Augen hält, dass sich das Leben in den Favelas von Sao Paulo nicht geändert hat, eher ist es noch brutaler geworden.

Eines Tages trifft Carolina Maria de Jesus auf den Reporter Audalio Dantas und der schildert in einer Reportage ihr schweres Leben. Sie wird bekannt und erlebt voll Genugtuung, dass es sich gelohnt hat, das Buch führen über ihren täglichen Überlebenskampf. Das Tagebuch endet am 1. Januar 1960 mit den Worten: „Ich stand um 5 Uhr auf und ging Wasser schleppen“. Ich fragte mich oft, was aus ihr geworden sein mag, denn immerhin deutete sich indem Buch eine Wende an.

Fortsetzung: „Das Haus aus Stein“

Erst vor einiger Zeit habe ich erfahren, dass dieses Buch eine Fortsetzung hat, und die ist nur bedingt ermutigend. Nicht nur Audalio Dantas Reportage wird ein Erfolg, sondern auch das gesamte Tagebuch wird gedruckt und weltweit ein Erfolg.

Dieser plötzliche Reichtum ist anfangs ein Segen für Carolina. Sie zieht in ein neues, das steinerne Haus, in eine neue Umgebung, in der sie sich aber fremd fühlt. Sie gibt ihr Geld mit vollen Händen aus, gibt auch vielen Armen und Notleidenden davon ab, lässt sich auf finanzielle Abenteuer und auch allerlei bizarre Medienauftritte ein. Irgendwann verarmt sie wieder und stirbt erneut in einer Hütte. Sie hat es nicht geschafft, sie war zu unerfahren mit dem Leben außerhalb ihres Umfeldes, sie hatte schlechte Berater und fiel den üblichen Geschäftemachern zum Opfer. Auch der Reporter Audalio Dantas konnte sie nicht davor bewahren .
Aber die Kinder Vera und Joao leben inzwischen in anderen Verhältnissen. Sie haben einen Beruf gelernt und Vera hat einen Facharbeiter geheiratet und lebt außerhalb der Favelas.
Traurig hat mich diese Wiederbegegnung trotzdem gestimmt. Das Leben ist keine Happy end Geschichte.
Dennoch lese ich das „Tagebuch“ immer mal wieder nach. Denn nach wie vor sind es wenige, die es aus der Favela in ein Haus aus Stein schaffen.

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Zuletzt aktualisiert: 12. Apr, 12:18

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