Montag, 18. Januar 2010

Wahnsinn

Vor vielen Jahren - es war wohl nach der Jubeldemonstration zum Geburtstag unserer sozialistischen Republik - verließ ich nach absolvierter Teilnahme an der Station "Schönhauser Allee" die S-Bahn und stieg zur Eingangshalle hinauf. Dort stand ein älterer Mann, ein bisschen verkommen, ein bisschen versoffen. Der rief den Leuten, die an ihm vorbei hasteten entgegen: "Ihr werdet so verarscht, ihr alle, warum lasst Ihr Euch das gefallen, das ist doch alles Scheiße hier". Und die Leute gingen vorbei, peinlich berührt. Auch ich passierte ihn wortlos.

Vor mir sagte ein Mann zu seiner Begleiterin: "Ach, ein Verrückter" hoffentlich kassieren sie den nicht ein. Der kriegt bloß Ärger.“
Und ich dachte: " Ich dachte: Er ist unglücklich, er ist krank, er hat in allem Recht. Es ist ein Wahnsinn.

Die DDR ging vorbei - ein Wahnsinn – und es wurde viel geschrieen.

Ich sehe sie öfter, wenn ich in die "Schönhauser Arcaden" einkaufen gehe. Sie sieht aus wie ein Model, sehr schlank mit einem ungeschminkten blassen Gesicht, das einen Visagisten aber sicher inspirierten könnte.
Ich denke, sie ist so Anfang der Dreißig, die aschblonden Haare hat sie meist hochgesteckt. Sie ist unauffällig aber originell gekleidet, eine Leinenhose mit einem TShirt. Manchmal hat sie ein Mützchen auf und einen Leinenbeutel über der Schulter.
Kürzlich betrat sie mit Riesenschritten die "Arcaden" und schrie den Leuten ihre Empörung uns Gesicht - eine Empörung, die man immer nur teilweise erahnen kann.
Auschwitz kommt vor, Palästina, Kaffeepreise. Immer wenn sie ihre Empörung ausspeit, sucht sie mit Blicken nach Leuten, die ihren Blick erwidern. Meist an der kleinen Kaffeebar, wo die Gäste an den Tischen sitzen bleibt sie stehen und schreit in die erstaunt aufblickenden Gesichter hinein.

Irgendwann geht sie weiter meist in den Supermarkt und dort hört man noch ihre Beschimpfungen. Auch wenn nicht Wort für Wort zu verstehen ist, sind es geschrienen Anklagen gegen die Welt, wie sie ist und vor allem gegen die Gleichgültigkeit der Menschen, die sie abwehrend oder belustigt anblicken.
Einige Tage zuvor war sie mir auf der Straße entgegengekommen auch schreiend, da kam merkwürdigerweise das Wort "Lafayette" vor und sie suchte wie immer den Blick der ihr Entgegenkommenden. Mich sah sie auch an, aber ich blickte nicht weg, sondern interessiert in ihr Gesicht. Das wollte sie nicht, das war keine Chance für eine direkte Konfrontation. Also ging sie weiter.
Ich dachte: Sie ist unglücklich, sie ist krank, sie hat in allem Recht. Es ist ein Wahnsinn.

SPENDENGALA

Mir sind Spendengalas, überhaupt die Zurschaustellung unendlicher Wohltätigkeit , schon immer mehr als verdächtig .Manchmal sind sie sicherlich ganz nützlich. Die Aidsstiftung, die Obdachlosenhilfe, Kinderdörfer, Selbsthilfeinitiativen - sie alle profitieren von Spendengalas und da kommt mir der Rahmen auch halbwegs akzeptabel vor.

Aber jetzt stockt bei mir die innere Bereitschaft zur Toleranz gegenüber diesem Gala-Treiben: Dieses Erdbeben in Haiti ist so apokalyptisch, dass ich eine Spendengala – noch dazu von diesem unsäglichen Thomas Gottschalk moderiert – nur als Obszönität verstehen kann.
Mir kommt die Spendengala vor wie eine andere Seite der Apokalypse.

Ich sehe die Promis lächelnd über den Teppich rauschen – der zu ihren Füßen noch nicht bebt - wie schön. Ich sehe sie den Darbietungen lauschen und höre, wie der Saal vom Beifall bebt. Ich sehe sie bebend vor Geilheit, von der Kamera erwischt zu werden.
Und denke mir: Alles, was da zusammenkommt, käme auch zusammen, wenn irgendwo anders kein Krieg wäre, der zu finanzieren ist.

Es ist mir übel bis unbehaglich, dieses mitmenschliche Getue nach dem Motto: Mag anderswo die Erde beben, wir lassen unsere Promis leben.

Abschließende Predigt: Seid dankbar, Ihr Eitlen, dass sich die Erde nicht wirklich mal auftut – eines Tages - unter der Wucht der Ungerechtigkeit, der einseitigen Belastungen und ungleichen Chancen. Sie könnte kippen die Welt und Abgründe könnten sich auftun. Und dann hilft keine Gala mehr, sondern nur noch die Galeere für die Ungerechten.
Amen, Halleluja.

THERAPEUTISCHE BÜCHER

(Wish I could find a good book to live in)

Im Dezember1988 notiert der Schriftsteller und Dichter Peter Rühmkorf (1929-2008)
in sein Tagebuch TABU I: „Das Gefühl, dass etwas zu Ende geht, Zur Hälfte bereits abgestorbenes Zeug, das man mit sich herumschleppt. Erledigte Stoffe. Hadesgepäck. Und kein tröstliches Buch, in dem man rückstandlos verschwinden kann.“.

Wer kennt solche Gefühle nicht, wer hebt nicht manchmal irritiert die Augen von einem Buch, weil es ihn soeben entlassen hat aus seiner Welt in die eigene wie sie ist.

Oder, wer bekommt nicht Sehnsucht nach diesem Buch - und möchte wieder hineinflüchten, weil es so gut getan hat, drin zu verschwinden und zu lesen. Es hat weniger mit dem Bedürfnis nach Weltflucht, sondern – bei mir ist es so – mit dem Trost zu tun, den man daraus schöpft, dass es den Romanhelden ähnlich geht, wie einem selbst. Viele Leser wollen von Büchern nichts als entführt werden, ich nicht. Ich will erinnert werden, wie das wirkliche Leben ist und manchmal daran, dass es nicht so schlimm ist, nicht die Katastrophe, die ich befürchte.
Bücher mit einer therapeutische Wirkung nenne ich solche Lektüre. Manchmal nur für eine bestimmte Zeit, manchmal auch für immer.

Solche Sachen werde ich in einer kleinen Reihe vorstellen.

TAGEBUCH DER ARMUT

Warum lese ich immer wieder ein Buch, in dem eine Frau aus den Favelas von Sao Paulo schildert, wie sie täglich gegen den Hunger kämpft, durch die Straßen von Sao Paulo mit ihrem Müllsack eilt und Abfall sammelt?
Das Buch, in dem davon die Rede ist, heißt „Tagebuch der Armut“ und stammt von der schwarzen Brasilianerin Carolina Maria de Jesus.
Erschienen ist es schon zu DDR-Zeiten in der Reihe Documente des Reclam Verlags. Es ist ein authentischer Bericht, denn es hat sie gegeben, diese Carolina Maria de Jesus. Sie lebte mit ihren zwei Kindern, Vera und Joao, in einer neun Quadratmeter großen Bretterbude.

Ende der fünfziger Jahre begann sie jenes Tagebuch, in dem sie berichtet, wie sie leere Flaschen sammelt und verkauft, wie viel sie dabei verdienen konnte für den Tag und wie sie versucht, ein bisschen Fleisch am Kühlhaus zu ergattern, bevor es mit Lauge übergossen wird, wie sie zur Wasserstelle geht und sich mit den Frauen unterhält und streitet, wie sie ihre Kinder vor den Schlägen ungeduldiger Nachbarn schützt, wie sie ihrer Tochter neue Schuhe schenken kann, weil sie auf einen mildtätigen und an ihr sexuell interessierten Menschen trifft und wie sie jeden Abend hofft, der nächste Tag würde besser. Und wie sie erlebt, dass der Hunger alles in gelbe Farbe taucht. Der Hunger, der überall ist und der sie jeden Tag aus den Gesichtern ihrer Kinder anblickt.

Nein, ich lese das nicht, weil ich mich dann befriedigt zurücklehnen und mir sagen kann, wir sollten doch zufrieden sein, weil es einem ja doch gut geht, wie es neoliberale Moralisten empfehlen. Ich lese es, weil es eine Sprache ist, die einfach und doch tief zu Herzen gehend ein Leben schildert, das menschenunwürdig ist und in dem sich trotzdem seine Würde zu bewahren eine tägliche, übermenschliche Anstrengung bedeutet.

Ich verfolge dieses Leben auch deshalb weil ich Tagebücher liebe, die den Alltag beschreiben. Und der Alltag hat viele Gesichter überall auf der Welt.
Deshalb ist dieser alte Reclam Band schon ein bisschen zerlesen. Ich schlage ihn auf, so als besuchte ich diese Carolina mal wieder und fragte, wie es ihr geht.

Es ist kaum noch möglich, in Worten, die nicht verschlissen und abgegriffen sind, das Elend zu benennen . Alles ist schon gesagt und darum lese ich – statt nach neuen unverbrauchten Worten zu fahnden - lieber nach, was schon niedergeschrieben ist, unverstellt und ohne Pathos. Aus Anteilnahme. Die Empörung stellt sich ohnehin ein, wenn man sich vor Augen hält, dass sich das Leben in den Favelas von Sao Paulo nicht geändert hat, eher ist es noch brutaler geworden.

Eines Tages trifft Carolina Maria de Jesus auf den Reporter Audalio Dantas und der schildert in einer Reportage ihr schweres Leben. Sie wird bekannt und erlebt voll Genugtuung, dass es sich gelohnt hat, das Buch führen über ihren täglichen Überlebenskampf. Das Tagebuch endet am 1. Januar 1960 mit den Worten: „Ich stand um 5 Uhr auf und ging Wasser schleppen“. Ich fragte mich oft, was aus ihr geworden sein mag, denn immerhin deutete sich indem Buch eine Wende an.

Fortsetzung: „Das Haus aus Stein“

Erst vor einiger Zeit habe ich erfahren, dass dieses Buch eine Fortsetzung hat, und die ist nur bedingt ermutigend. Nicht nur Audalio Dantas Reportage wird ein Erfolg, sondern auch das gesamte Tagebuch wird gedruckt und weltweit ein Erfolg.

Dieser plötzliche Reichtum ist anfangs ein Segen für Carolina. Sie zieht in ein neues, das steinerne Haus, in eine neue Umgebung, in der sie sich aber fremd fühlt. Sie gibt ihr Geld mit vollen Händen aus, gibt auch vielen Armen und Notleidenden davon ab, lässt sich auf finanzielle Abenteuer und auch allerlei bizarre Medienauftritte ein. Irgendwann verarmt sie wieder und stirbt erneut in einer Hütte. Sie hat es nicht geschafft, sie war zu unerfahren mit dem Leben außerhalb ihres Umfeldes, sie hatte schlechte Berater und fiel den üblichen Geschäftemachern zum Opfer. Auch der Reporter Audalio Dantas konnte sie nicht davor bewahren .
Aber die Kinder Vera und Joao leben inzwischen in anderen Verhältnissen. Sie haben einen Beruf gelernt und Vera hat einen Facharbeiter geheiratet und lebt außerhalb der Favelas.
Traurig hat mich diese Wiederbegegnung trotzdem gestimmt. Das Leben ist keine Happy end Geschichte.
Dennoch lese ich das „Tagebuch“ immer mal wieder nach. Denn nach wie vor sind es wenige, die es aus der Favela in ein Haus aus Stein schaffen.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Status

Online seit 7164 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 12. Apr, 12:18

Suche

 

Aktuelle Beiträge

Die Strafe folgt spät
Gestern am 01.04. 10 (indes kein Aprilscherz!)musste...
malef - 2. Apr, 19:03
Das...
...kenn ich. Ganz genau so. Nur: "Wenn es ein Urteil...
rivka - 14. Mär, 16:59
Immer wieder ein Sonnenuntergan
Heute mal wieder ein schönes Bild von den Tatsachen...
Magda - 3. Feb, 19:44
Nächtliches Kunsterlebnis
Letzte Nacht konnte ich lange nicht einschlafen - weiß...
Magda - 3. Feb, 09:14
Jerome D. Salinger
Wenn ich mich recht erinnere, erschien Salingers „Fänger...
Magda - 28. Jan, 21:27