Mittwoch, 6. September 2006

Pankow - Kissingenplatz 12

„Katze läuft vor der Maus
Blut stürzt die Wand“

Wenn man die lange Heinersdorfer Brücke geschafft hat, dann ist absolut Pankow, nicht Pankow-Heinersdorf und nicht Pankow-Niederschönhausen.
Vorbei an der Aral-Tankstelle, deren Einfahrt durch ein missglücktes Einbiegemanöver eines LKWs ziemlich demoliert wurde. Die gesamte Ausfahrt Prenzlauer Promenade war deshalb vor kurzem blockiert. Die Kissingenstrasse geht von ihr ab. Hier stehen die typischen Genossenschaftsbauten aus dem Vorkrieg.
Die Straße weitet sich zum Kissingenplatz. Dort in der Nummer 12 wohnten - so steht es auf der seit kurzem angebrachten Tafel - Inge und Heiner Müller. Und weil deren beider Leben zu sehr unterschiedlichen Zeiten endet, wird darauf hingewiesen, dass von 1959 bis 1966 beide Müllers in diesem Altneubau wohnten, ab 1966 Heiner Müller dann noch allein bis 1979. Das Leben ist wenig gedenktafelfreundlich.
Am 1. Juni 1966 kam Heiner Müller abends nach Hause. Er habe noch sehr lange an der U-Bahn mit Adolf Dresen über die Zukunft oder Nicht-Zukunft des Marxismus diskutiert, schreibt er in seiner Biographie und. "Als ich nach Hause kam, war sie schon tot".
Er schrieb in Etappen die "Todesanzeige". Wie er sich verspätet, wie sie da liegt den Kopf im Gasofen und er sich selbst beobachtet, als der, der sie findet.
Das alles habe ich nachgelesen.
Über Inge Müller las ich, dass sie 1925 in Berlin geboren wurde. Dass sie verschüttet war und ihre toten Eltern aus den, mit denen sie drei Tage unter den Trümmern gelegen hatte, mit den Händen ausgegraben hat.
Aus Büchern ist zu erfahren, dass sie nach dem Kriegsende als Sekretärin, Trümmerfrau, Arbeiterin und Journalistin gearbeitet hat.
Von 1951 bis 1959 lebte sie in Lehnitz bei Oranienburg mit ihrem zweiten Mann. Dann lebte auch Heiner Müller dort, den sie 1953 kennengelernt hat. Ihre schriftstellerischen Ambitionen führten sie zusammen.
1955 wurde er ihr dritter Ehemann wurde. Sie zogen zusammen an den Kissingenplatz, arbeiteten zusammen an mehreren Stücken. Sie schrieb Hörspiele und Texte fürs Theater. Ihre Bearbeitung von Viktor Rosows Stück »Unterwegs«, 1964 uraufgeführt, war ein Riesenerfolg. Aber es ist auch zu lesen, dass als Übersetzer und Bearbeiter lange Zeit Heiner Müller angegeben war.

Es kam zwischen ihr und dem Dramatiker nicht zu der erträumten künstlerischen Gemeinschaft. Sie wird von der geliebten Frau zu beiläufigen Assistentin. Sie will mehr und sie geht ihm damit auf die Nerven, gefährdet seine Kreativität, wie er befürchtet. Er zieht sich zurück und sie setzt nach. Sie wird krank und depressiv. Die traumatischen Erfahrungen zum Kriegsende tragen das Ihre bei. Immer wieder versucht sie den Suizid, am Ende glückt er ihr. Er steht im Rufe, sich ihrer bedient und sie dann dem Vergessen anheimgegeben zu haben.

Das alles habe ich nachgelesen, Aber seit vielen Jahren habe ich Verszeilen von ihr im Kopf. Aus dem Jahr 1966.
Da erschien die erste Ausgabe der Lyrikanthologie "Auswahl 66". Viele erste Arbeiten, die vergessen sind, aber auch schon bekannte Autoren waren vertreten.
Es war eine Zeit für Lyrik und ich hatte einen guten Freund, der da auch vertreten war.
Unter den Dichtern als einzige Frau: Inge Müller. Ein Foto von ihr dabei - eine schöne Frau.

Ich las:

Trümmer 45

Da fand ich mich
Und band mich in ein Tuch
Ein Knochen für Mama
Ein Knochen für Papa
Einen ins Buch

Und

Baal

Baal zieht die Schuhe aus
trägt die Füße in der Hand
Katze läuft vor der Maus
Blut stürzt die Wand

Solch gewaltige, bedeutungsschwere Worte bleiben im Gedächtnis.

Inge Müller wurde in Pankow begraben, aber nur noch eine Stele erinnert an sie. Das Grab ist eingeebnet.
Es blieb die Tafel an einem inzwischen renovierten Haus.

Inge Müllers Existenz aber und vor allem ihr Abschied daraus sind eingegangen in Heiner Müllers Werke. Ophelias Monolog in der Hamletmaschine ist eines der schockierenden und faszinierenden Beispiele dafür.
"Ich bin Ophelia. Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau am Strick. Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern. Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE. Die Frau mit dem Kopf im Gasherd. Gestern habe ich aufgehört mich zu töten. Ich bin allein mit meinen Brüsten meinen Schenkeln meinem Schoß. Ich zertrümmere die Werkzeuge meiner Gefangenschaft den Stuhl den Tisch das Bett. Ich zerstöre das Schlachtfeld das mein Heim war. Ich reiße die Türen auf damit der Wind herein kann und der Schrei der Welt. Ich zerschlage das Fenster. Mit meinen blutenden Händen zerreiße ich die Fotografien der Männer die ich geliebt habe auf dem Tisch auf dem Stuhl auf dem Boden. Ich lege Feuer an mein Gefängnis. Ich werfe meine Kleider in das Feuer. Ich grabe die Uhr aus meiner Brust die mein Herz war. Ich gehe auf die Strasse gekleidet in mein Blut."

Am Ende ist sie - verschüttet in Heiner Müllers Texten - wieder freigelegt worden. Von Frauen und Männern.
Zwei Literaturwissenschaftlerinnen Sonja Hilzinger und Ines Geipel widmen sich ihr.
Aber auch der giftende Wolf Biermann dichtete in der taz und später als gedachten Vorspruch zu einer Anthologie im Aufbau-Verlag.

"Legende vom Selbstmord der Inge Müller im Jahre '66"

"Unter Trümmern in Berlin, nicht unterm Regenbogen/Lag die Dichterfrau verschüttet, ward herausgezogen/Blieb halb tot im Frieden, hat sich ganz dann hingegeben/Einem Müller, Heiner - auch genannt: Der Steineklopper/Tiefer, unter ihm, verschüttet, lag sie nach dem Kriege". In dem umstrittenen Passus heißt es weiter: "Und sie flieht aus ihres genialen/Mackers Mickerleben/Und sie springt dem guten Tod,/Freund Hein, auf seine Schippe."

In seinen "Männerfantasien" schreibt Klaus Theweleit.
"Am Rand des Königswegs unserer abendländischen Dichtergenies liegt immer eine Frauenleiche."

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