Sonntag, 15. Januar 2006

Ein alter Freund

Vor kurzem rief mich mein Freund U. an und ich war überrascht..
Er liegt zu Hause mit einer Sauerstoffmaschine und sagt, es geht ihm gut, soweit es einem in dieser Lage überhaupt gut gehen kann. Ich habe mich sehr gewundert über diesen Anruf, denn U. wartet immer, bis man sich selbst meldet.
Jetzt dachte ich , er will mich einladen oder einen Besuch anregen oder irgend so etwas. Deshalb spulte ich mein ganzes Repertoire herunter, weil ich mich wegen eigener Abhaltungen nicht gemeldet habe.
Man hatte mir gesagt, er sucht Ablenkung und es ist am besten, wenn man ihm ein bisschen was erzählt, denn er sei auch ziemlich erschöpft.
Aber am Ende kam heraus, dass er angerufen hat, weil er Geld braucht. Er hat so einen chinesischen Mediziner oder eine Klinik für chinesische Heilkunst, die ihm mit Akupunktur und Kräutern Hoffnung machen und das ist teuer und nun reicht das Geld nicht mehr. Ich war ziemlich verblüfft. Einerseits wegen der Illusionen, die er da hegt, andererseits wegen der Chuzpe. Schon immer hat U. die feste Grundüberzeugung gehegt, dass ihm andere Menschen was schuldig sind, weshalb er auch nie was zurückgezahlt hat, wenn er sich was geborgt hatte. Und das andere Problem ist, dass ich ihn deshalb nicht beschimpfen kann, ich kann es nicht mehr klären mit ihm. Er ist todkrank, wollte keine OP, weil die „Ärzte sowieso alle Idioten" sind. Die Chemotherapie schlägt wohl nicht mehr an und da ist er auf diese Idee gekommen.
Ich kann und ich würde ihm auch gar nichts geben. Immer hat U. aus der stärkeren Position gespielt, schon früher, vielleicht auch, weil ich mir das habe gefallen lassen. Aber jetzt – wo ich durchaus in der Lage wäre, mich gegen ihn zur Wehr zu setzen, da ist er krank und ich kann alles das nicht sagen, was ich ihm sagen wollte.

Vor vielen Jahren hat er mir die Schönheit Schubertscher Musik nahegebracht. Ich hatte von ihm "Die schöne Müllerin" mit Fritz Wunderlich geschenkt bekommen. Dann habe ich mir "Die Winterreise" gekauft und war verzaubert von der melancholischen Wucht und Schönheit. Später schenkte er mir die damals wertvolle Plattenkassette "Don Giovanni" mit Karl Böhm. Die Titelrolle sang Fischer-Dieskau. Ich sah ihm seine Grobheiten und seine unglaubliche Egozentrik nach, weil es durch ihn Entdeckungen gab, die ich allein nicht gemacht hätte. Und dann später. Ich kam zu ihm, da saßen einige seiner Freunde. Einer sprach kein Wort und blickte vor sich hin. Ein Freund U.s erklärte, das sei sein polnischer Geliebter, aber wenn er sich nicht in der DDR verheirate, dann könnten sich die beiden nicht sehen. U. schlug vor, dass ich den doch heiraten könnte. Und dann malte er mit viel Aplomb aus, wie sie mich ausstaffieren würden, wenn ich heirate. Ich lehnte das Ansinnen ab, ich war damals sehr allein und U. wusste das auch. Es gab eine böse Szene. Ich fühlte mich verletzt und bloßgestellt.

Und immer wenn ich mit ihm eine Erfahrung teilen wollte, war er mir einen Schritt voraus oder bestritt die Bedeutung dessen, was er mir vermittelt hatte. Er war immer schon wieder weiter, ich konnte machen was ich wollte. Er wollte nie einverstanden sein mit mir. Irgendwann habe ich diese Freundschaft als ausbeutend und ungleich empfunden und bald ist er ja auch gegangen.
Und jetzt - nach vielen Jahren - bin ich wieder hilflos. Er wird mir bald wieder einen Schritt voraus sein - eine Erfahrung machen, die ich nicht kenne. Er wird sterben und alles was uns bewegt hat, wird bedeutungslos sein.
Dass so viele Jahre vergehen mussten, bis mir klar wird, dass ich mich manchmal zu sehr anpasse an Menschen?

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Zuletzt aktualisiert: 12. Apr, 12:18

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